Körpersignale spielen eine wichtige Rolle in der menschlichen Entwicklung, jedoch wurde bisher kaum erforscht, ob bzw. wie Babys die Signale des eigenen Körpers wahrnehmen. Markus Tünte ist an der Universität Wien als Psychologe tätig und realisierte kürzlich genau dazu eine Studie. Warum dieses Thema bisher wenig Beachtung in der Wissenschaft fand, erklärt er so: „Die Wahrnehmung körpereigener Signale – auch Interozeption genannt – ist ein Forschungsfeld, das in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen hat. Bisher konzentriert sich die Forschung jedoch vor allem auf Erwachsene und stützt sich dabei häufig auf verbale Selbstauskünfte, etwa zur Frage, ob jemand den eigenen Herzschlag spüren kann. Solche Methoden lassen sich nicht ohne Weiteres auf die ersten Lebensjahre übertragen. Um die Körperwahrnehmung im frühen Kindesalter zu erforschen, braucht es daher neue, innovative und altersgerechte Messmethoden.“
Wahrnehmung und soziale Fähigkeiten
Laut Markus Tünte spielen Körpersignale eine zentrale Rolle in frühen sozialen Interaktionen. Ein Baby muss zum Beispiel lernen, Signale wie Hunger zu kommunizieren – etwa durch Schreien oder Unruhe. Zugleich müssen die Bezugspersonen des Babys lernen, diese Signale zu interpretieren und darauf angemessen reagieren. Daher ist es wichtig, zu wissen, wie Babys Körpersignale überhaupt wahrnehmen. Aktuell gehen Forscher*innen der Entwicklungspsychologie davon aus, dass frühe, körperbasierte Interaktionen eine wichtige Grundlage dafür darstellen, wie Babys sich selbst wahrnehmen, ebenso können sie dadurch ihre sozialen Fähigkeiten ausbauen. In einer aktuellen Studie konnte Markus Tünte – gemeinsam mit Kolleg*innen – zeigen, dass bereits drei Monate alte Babys den eigenen Herzschlag wahrnehmen können. Zudem zeigte sich, dass sich die Wahrnehmung der eigenen Atmung im zweiten Lebensjahr eines Babys stark verbessert.
Herzschlag und Atemrhythmus
Markus Tünte erklärt den Ablauf der Studie: „Um die frühe Körperwahrnehmung zu untersuchen, haben wir Babys Figuren präsentiert, die entweder synchron oder asynchron zu ihrem eigenen Herzschlag oder ihrer Atmung waren. Beim Herzschlag zeigten wir beispielsweise animierte Figuren, die entweder genau im Takt des Herzschlags eine Bewegung machten oder in einem ähnlichen, aber leicht verschobenen Rhythmus. Parallel dazu haben wir mithilfe eines Eye-Trackers die Augenbewegungen der Babys in Echtzeit aufgezeichnet.“ Im Anschluss analysierten die Forscher*innen, wie lange die Babys wohin blickten. Das Ergebnis: Die Babys erkennen die Übereinstimmung mit dem eigenen Herzschlag bzw. Atemrhythmus und den animierten Figuren früh und sie blickten die Figuren länger an, wenn sich diese synchron mit dem Herzschlag bzw. Atem bewegten.
Unabhängig voneinander
Weiters konnten die Forscher*innen zeigen, dass die bewusste Wahrnehmung von Herzschlag und Atmung unabhängig voneinander funktioniert – eine Erkenntnis, die vielleicht überraschen mag. Laut Markus Tünte kennt man den Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung von Herzschlag und Atmung noch nicht vollständig. Obwohl auf den ersten Blick beide Signale eng miteinander verknüpft wirken, zeigen dennoch zunehmend mehr Forschungsergebnisse, dass die bewusste Wahrnehmung dieser beiden Körpersignale unabhängig voneinander zu funktionieren scheint. „Ein möglicher Erklärungsansatz liegt in den unterschiedlichen Funktionen und Bedeutungen der beiden Signale. Die Atmung kann willentlich kontrolliert werden und ist leichter ins Bewusstsein zu bringen – wir können bewusst tief einatmen oder unsere Atmung anpassen. Der Herzschlag hingegen entzieht sich unserer direkten Kontrolle und ist uns meist nur unter besonderen Umständen bewusst“, führt Markus Tünte aus. „Ein möglicher Erklärungsansatz könnte sein, dass unterschiedliche Gehirnstrukturen für die Wahrnehmung von Herzschlag und Atmung verantwortlich sein könnten. So zeigt Forschung aus dem Tierbereich, dass bereits sehr früh in der Verarbeitung, kurz vor dem Hirnstamm, bereits spezialisierte Neuronen vorhanden sein könnten, die zwischen Herzschlag und Atmung unterscheiden.“
Forschungsausblick
Die Forschungsergebnisse könnten neue Perspektiven für die Entwicklungspsychologie eröffnen. Besonders wichtig ist dabei die Frage, wie die frühe Körperwahrnehmung mit der Entwicklung emotionaler und sozialer Fähigkeiten zusammenhängt – und welche Rolle Eltern in der Entwicklung frühkindlicher Körperwahrnehmung spielen. Darüber hinaus könnte weitere Forschung dazu beitragen, die gesunde Körperwahrnehmung und somit zugleich die psychische Gesundheit von Kindern zu fördern. Denn grundsätzlich spielt die Wahrnehmung körpereigener Signale eine zentrale Rolle für die Wahrnehmung von Emotionen sowie für die psychische Gesundheit und die Selbstwahrnehmung. Schließlich haben Emotionen eine körperliche Komponente, so geht etwa die Wahrnehmung von Angst oft mit einem erhöhten Herzschlag einher. Markus Tünte: „Eine gestörte Wahrnehmung dieser körperlichen Signale kann maßgeblich zu einer verminderten psychischen Gesundheit beitragen. Darüber hinaus trägt die Wahrnehmung körpereigener Signale zur Bildung des sogenannten ‚minimalen Selbsts‘ bei – also dem grundlegenden Bewusstsein, einen Körper zu haben und zu existieren.“
