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21. Mai 2025

Der eigenen Migration eine Bühne geben

Von Schrödingers Katze
Gesellschaft
Migrant*innen nutzen digitale Medien, um ihre Geschichten einzuordnen und diesen einen roten Faden zu geben.

In ein anderes Land zu übersiedeln, stellt eine große Veränderung dar. Migrant*innen müssen oft eine weitere Sprache lernen, sie sind mit einer neuen Kultur konfrontiert, der bisher bekannte Alltag ist nicht mehr vorhanden. Zudem stellt sich für viele ein Gefühl der Heimatlosigkeit ein: Die alte Heimat wurde verlassen und die neue Heimat fühlt sich (noch) fremd an. Es kann daher helfen, über die Migrationserfahrungen zu sprechen – etwa auf Social Media. Christina Schachtner ist Professorin für Medienwissenschaft an der Universität Klagenfurt. Im Rahmen einer Studie führte sie Interviews mit 32 Migrant*innen aus Afrika, arabischen Ländern und Europa, die seit durchschnittlich 15 Jahren in Deutschland oder in Österreich leben. Die Medienwissenschafterin wollte dabei der Frage nachgehen, wie Migrant*innen von ihren Erfahrungen mit Migration erzählen und welche Bedeutung in diesem Zusammenhang digitale Medien haben.

Narrative Praktiken

Die Studie zeigte, dass Migrant*innen durch ihre Erzählungen ihre Migrationserfahrungen reflektieren und sich in neu verorten. Dabei verwenden sie besonders oft Metaphern wie Bewegung, Entwicklung oder Balance. Bedeutend ist für sie das Konzept der narrativen Praktiken: „Wenn von narrativen Praktiken die Rede ist, dann geht es um ein Tun, in das das Warum, Was und Wie des Erzählens eingewoben ist. Mittels narrativer Praktiken versuchen die Erzähler*innen sich die Welt zu erschließen und sich in diese Welt hineinzubauen“, sagt Christina Schachtner. 

Narrative Praktiken sind in Interaktionen eingebettet. Sie richten sie an ein Gegenüber und zeigen sich etwa in Gestalt von Texten, Bildern oder Musik. Sie haben zwei Ebenen: „Die offensichtliche, von den Erzähler*innen intendierte Ebene bezieht sich auf die explizit erzählte Geschichte, die zweite Ebene auf die impliziten Botschaften, die eine nicht-offensichtliche Geschichte transportieren.“ Diese impliziten Botschaften bilden den roten Faden im Leben der Erzähler*innen. Sie folgen einer spezifischen Logik, etwa dass der/die Erzähler*in sich als eine Person präsentiert, die erfolgreich durchs Leben geht. „Die Welt, die wir mit Hilfe narrativer Praktiken entwerfen, ist zugleich eine Bühne für unsere Selbstentwürfe.“

Narrative Praktiken und die Art und Weise, wie wir über unser Leben berichten, spielen gerade für Menschen mit Migrationshintergrund eine wichtige Rolle, denn ihr Leben ist geprägt von Brüchen, Verlusten, Abschieden, Widersprüchen und Neuanfängen. All das gilt es narrativ zu verarbeiten – und dabei handeln die Migrant*innen unterschiedlich: So dominiert in manchen Erzählungen der Interviewpartner*innen die Trauer über das Verlorengegangene, während in anderen Erzählungen darauf fokussiert wird, das eigene fragil gewordene Leben zusammenzuhalten.

Persönliche Entwicklung

Als Beispiel nennt die Forscherin Malika (Anm.: Die Namen der Interview-Partner*innen sind fiktiv): Sie migrierte aus Marokko und wusste bereits als achtjähriges Mädchen, dass sie eines Tages das Land verlassen will, schließlich hätte sie in ihrer Heimat ein Leben als Mutter und Hausfrau erwartet. Als sie mit 24 Jahren in Deutschland ankommt, möchte sie viel erreichen: Sie war als Au-pair tätig, besuchte Deutschkurse sowie eine Altenpflegeschule, danach eine Fachhochschule und arbeitet sich bis zur zur diplomierten Pflegepädagogin hoch. Christina Schachtner sagt zu Malikas narrativer Praktik: „Entwicklung ist das Stichwort in Malikas Leben und in ihrer Erzählung. Sie entwirft eine narrative Wirklichkeit, in der sie sich als Akteurin positioniert, die ihr Leben nach ihren Vorstellungen steuert.“

Umgang mit Krieg

Bei Vara, einer Migration aus Syrien, zeigen sich wiederum Versuche des Umgangs mit Brüchen: Ihr Leben ist durch den Krieg in Syrien geprägt. Sie kann nicht mehr in ihr Herkunftsland zurück,   ist aber weiterhin mit ihrer Familie dort in Kontakt. Bei den gemeinsamen Videotelefonaten versuchen die Betroffenen mit der Realität des Krieges umzugehen – mitunter mit Humor. Die Bedrohungen blenden sie dadurch teilweise aus, wobei das nicht immer funktioniert, wie Vara im Interview erzählt: „Es kann jede Sekunde eine Bombe kommen.“ Die Erlebnisse und Erzählungen von Migrant*innen sind durch Zustände des Dazwischen geprägt:  So erzählt etwa Lara, die aus Spanien migrierte, dass sie „irgendwo und irgendwie in der Mitte“ stehe und zu keinem Land gehöre.

Online-Medien

Digitale Medien dienen Migrant*innen als Instrumente und Bühne des Erzählens. Sie ermöglichen es ihnen, mit Menschen aus anderen Ländern in Kontakt zu bleiben und gemeinsam Erinnerungen zu schaffen: Lorenzo, ein Migrant aus Italien, trifft sich online regelmäßig mit seinen Freund*innen, die in verschiedenen Ländern leben. Für ihn ist das „fast wie zusammensitzen“. Der ursprünglich aus dem Senegal stammende Amar bekommt Bilder des Opferfestes von seiner Familie geschickt, dank dieser Fotos kann er beinahe ein bisschen mitfeiern. „Das transnationale Erzählen fördert die Verbundenheit zwischen Migrant*innen und ihren Familien und Freund*innen. Es kann aber auch neue Konflikte produzieren, wenn sich die Erzähler*innen einander entfremden, weil sie sich an unterschiedlichen Informationsquellen orientieren oder weil Werte und Gewohnheiten aus dem Migrationsland übernommen werden, die die Zurückgebliebenen nicht akzeptieren können“, sagt Christina Schachtner.

Kleine Erzählungen

Zudem nutzen Migrant*innen Mikroerzählungen (auch Small Stories genannt): Das sind kleine Erzählungen über laufende, zukünftige oder hypothetische Ereignisse. Sie treten in alltäglichen Situationen immer wieder auf, werden meist mündlich erzählt, sind unabgeschlossen und damit anschlussfähig an andere Geschichten. Mikroerzählungen eignen sich gut für Migrant*innen, da diese dazu neigen, ihren Familien in den Herkunftsländern nur Aussschnitte des neuen Lebens zu erzählen, problematische Themen werden oft verschwiegen: Fatih, ein syrischer Geflüchteter, schickt seiner Familie nur Bilder, die er außerhalb seines Zeltes aufgenommen hat – damit diese nicht sehen können, unter welchen Umständen er im Flüchtlingscamp lebt. „Ich teile nicht meine Traurigkeit“, sagt auch die aus dem Iran stammende Jasmin.

Obwohl Migrant*innen nur Ausschnitten aus ihrem neuen Leben präsentieren, sind ihre Online-Erzählungen dennoch wertvoll. Christina Schachtner erklärt, warum das so ist: „Migrant:innen erhalten oft wenig Anerkennung und Resonanz. Das hat damit zu tun, dass ihre sozialen Netze oft weit entfernt und daher physische Begegnungen rar oder gar nicht möglich sind. Häufig sind sie darüber hinaus von Diskriminierungen im Migrationsland bedroht. Sie werden mit ihrem Bedürfnis nach Anerkennung oft ignoriert und stattdessen an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Online- und Offline-Storytelling ist für sie daher essentiell.“

Medienwissenschafterin Christina Schachtner
Christina Schachtner ist Professorin für Medienwissenschaft mit dem Schwerpunkt Digitale Medien an der Universität Klagenfurt. © privat



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